So leben Familien von Gefangenen in Kambodscha

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Patenprogramm

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Über Ereignissen schreiben oder sie selbst erleben, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Als Redakteurin habe ich mich nach Kambodscha aufgemacht, um Familien aus dem Hoffnungsträger Patenprogramm persönlich zu treffen. Was ich erlebt habe, hat mich und meine Arbeit verändert. Ein Reisebericht von Marietta Steinhöfel

Ich erahne, wie es für ein Kind sein muss, das ohne Vater aufwächst. Allzu bekannt sind mir die Fälle von zerrütteten Elternhäusern im eigenen Umfeld und die Konsequenzen, die für die Kinder daraus folgen. Ich kann mir auch vorstellen, wie es sich in Armut lebt — ich habe die Zustände eines solchen Lebens in Kenia gesehen. Wellblechhaus an Wellblechhaus über Kilometer hinweg. Nun aber geht es nach Asien. Genauer gesagt nach Kambodscha; in eines von vier Ländern, in denen Hoffnungsträger Kinder von Gefangenen durch Patenschaften unterstützt. Und was solch’ ein Leben wirklich ausmacht, werde ich in den kommenden zwei Wochen erfahren. Zwei Wochen, die mir zeigen, dass sich Schicksale nicht verallgemeinern lassen, dass nur helfen kann, wer auch zuhört und dass Hoffnung wirklich verändert.

Es beginnt, wo es endet

Bevor unser Team, bestehend aus Sirivuth Ann, dem Leiter des Patenprogramms in Kambodscha, Hoffnungsträger Vorstand Marcus Witzke und mir, die ersten Patenkinder trifft, geht es ins Gefängnis. Hier beginnt unser Besuch und hier endet (zumindest vorerst) das gewohnte Leben für Familien, in denen eine Straftat vorgefallen ist.

Die Mauern des Gefängnisses „Correctional Center 2“ nahe Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh.

Zwischen Nähmaschinen sitzend treffen wir eine kleine Frau, lächelnd, in blauer Hemd-Hosen-Kombination, wie alle hier. Sie ist seit fünfeinhalb Jahren im Frauengefängnis in Kambodschas Provinz Kandal und wird es für weitere fünfeinhalb Jahre sein. Das Gefängnis, auch bekannt als “Correctional Center 2”, ist eines der großen Gefängnisse Kambodschas. Für 500 Insassinnen gebaut und mit 2.000 Personen belegt. Was Chan von manchen Frauen hier unterscheidet? Vielleicht die Tatsache, dass sie Mutter ist. Dass ihre beiden Kinder ohne sie klarkommen müssen und dass sie als Mutter nicht mitbekommt, wie Mliss (10) und Munny (11) aufwachsen.

Die Insassinnen haben die Möglichkeit im Gefängnis eine Ausbildung zu machen und so für eine berufliche Zukunft vorzusorgen. Mit der Hoffnungsträger Partnerorganisation werden die Ausbildungsprogramme gefördert, indem Material zur Verfügung gestellt wird, wie Nähmaschinen und Frisiertische. Der Raum, in dem wir stehen und in dem die Frauen Nähen lernen, ist mindestens so beengt wie das Gefühl in meiner Brust.

„Einer Mörderin stand ich noch nie gegenüber. Wir reichen uns die Hände.“

Chan lächelt über das ganze Gesicht. Als Sirivuth ihr auf Kambodschas Landessprache Khmer berichtet, dass wir noch am selben Tag ihre beiden Kinder besuchen werden, wird ihr Blick plötzlich ernst und ergriffen. Sie bittet den Aufseher, der einen Meter hinter uns stehend und uns genauestens beobachtend, etwas holen zu dürfen.

Die rote Tasche wird zum Hoffnungssymbol einer strafgefangenen Mutter, die darauf vertraut, dass es ihren Kindern gut gehen wird.

Die zweifache Mutter kommt mit einer roten Plastiktasche zurück, in der selbstgenähte Kleidungsstücke, Hygieneartikel und Spielzeuge sind. Ihre Kinder hat sie seit einigen Monaten nicht mehr gesehen. Die kurzen, aber so wichtigen Momente, die sie während der unregelmäßigen Besuche mit ihren Kindern haben kann, werden durch die Fahrtkosten zum Gefängnis zur Seltenheit. Wir versprechen, alles sicher bei ihren Kindern abzugeben und machen uns auf den Weg.

“Danke, dass ihr meine Kinder besucht. Nehmt das für sie mit … Und sagt ihnen, dass ich sie schrecklich vermisse!”

Großmutter Neary kümmert sich jetzt um die Kinder Mliss und Munny.

Die Kinder sind sehr schüchtern und reden kaum — kein Wunder, bei dem fremden Besuch. Von Großmutter Neary erfahren wir, was sich seit der Teilnahme am Patenprogramm verändert hat. Neary kümmert sich liebevoll um Mliss und Munny, doch alleine kann sie sie kaum versorgen. Der Vater ist als Hauptversorger in der Familie nicht mehr da und einen richtigen Job hat Neary nicht. Sie hilft, Lebensmittel in Plastik einzupacken und bekommt dafür etwa drei Dollar am Tag. “Durch die Unterstützung kann ich die Kinder endlich in die Schule schicken”, sagt sie und lächelt. Außerdem könnte sie durch das Spendengeld zukünftig öfter einen Besuch im Gefängnis machen, damit Mliss und Munny ihre Mutter wiedersehen.

“Die Fahrtkosten wären viel zu teuer für uns. Und der Eintritt ins Gefängnis kostet ja noch zusätzlich!”

Die Mängel jeder Familie sind individuell. Deshalb besuchen Sozialarbeiter die Patenfamilien regelmäßig und finden so heraus, wo Hilfe benötigt wird. Das undichte Hausdach der Familie ist inzwischen repariert.

Nöte sind verschieden

Anders als die erste Familie, die wir besucht haben, hat diese Familie kein Haus aus Stein, sondern aus Holz. “Das Dach war undicht und es regnete ständig rein”, klagt Großmutter Rotha. “Die Mitarbeiter von Prison Fellowship haben es jetzt zum Glück reparieren lassen.”

Die Kinder Sov (11) und Viseth (15) haben ihren Vater in den letzten zehn Jahren nur einmal gesehen, das war vor etwa zwei Monaten, also seit die Kinder Teilnehmer am Hoffnungsträger Patenprogramm sind.

Zu weit ist das Gefängnis entfernt, es befindet sich an der Grenze zum Nachbarland Vietnam, zu teuer sind die Kosten. Die Mutter der Kinder ist fast nie da. Sie arbeitet acht Stunden am Tag, manchmal mehr, sechs Tage die Woche.

Diese Familie verfügt über eine Besonderheit und beweist dadurch Mut und Veränderungswillen: eine eigene Hühnerfarm. Das ist ein vom Hoffnungsträger Patenprogramm gefördertes Projekt, bei dem die Patenfamilien durch ein kleines Darlehen Küken beziehungsweise Hühnereier und ein kleines Start-Set für das Hühnergehege erhalten. Die Hühner ziehen sie selbst groß und verkaufen sie schließlich auf dem Markt. Für ein verkauftes Huhn gibt es acht bis zehn Dollar. Schon nach kurzer Zeit ist das Darlehen so zurückgezahlt und das eigene kleine Unternehmen aufgebaut. “Das finden wir klasse, so können wir uns etwas dazu verdienen”, sagt Großmutter Rotha.

Mit der eigenen Hühnerfarm verdient sich die Familie etwas dazu.

Von der Hühnerfarm bin ich sofort begeistert. Es braucht mehr Projekte, wie diese: Projekte, die Familien selbstständiger machen, damit sie nicht zu abhängig sind von fremder Hilfe! Oder nicht? Ist das nicht die ideale Hilfe zur Selbsthilfe? Über dieses Thema muss ich mit einem Kollegen in Deutschland sprechen: Hugh Greathead, Senior Director für die Regionen Europa und Zentral-Asien unserer Partnerorganisation Prison Fellowship International.

“Oft stecken die Familien so sehr in der Armut und die Eltern so tief in den Problemen, dass die Grundversorgung wie etwa durch Patenschaften von Nöten ist, damit zumindest die Kinder Aussichten auf eine bessere Zukunft haben”, erzählt Hugh. Und wie steht es um die Unternehmsprojekte wie Hühnerfarmen?, will ich wissen. So ein Projekt sei nicht für jede Familie geeignet. Es erfordere Disziplin und Motivation.

“Die Familien brauchen den Antrieb, etwas verändern zu wollen und die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Letztere haben viele Elternteile leider aufgegeben, wo der Ehepartner im Gefängnis ist.”—Hugh Greathead

Die Familie, die ich hier treffe, hat diesen Antrieb, und auch die Hoffnung. Es hat sich also gelohnt, dass die Sozialarbeiter hier genau hingeschaut haben und das Potenzial erkannt haben.

Ein weiterer Familienbesuch in völlig anderen Lebensbedingungen

Nach zweistündiger Fahrt von unserer Unterkunft in Phnom Penh überqueren wir den Tonle Sap River, einen Nebenfluss des großen Mekong River, über eine Brücke. Wir kehren der Flussseite mit den modernen Hochhäusern den Rücken und finden auf der anderen Seite unser Ziel: Eine Siedlung aus kleinen Wellblechhäusern, dicht am Wasser gedrängt. Hier befindet sich das Zuhause der Patenfamilie, die wir heute treffen. Ein weitaus ärmeres, als jene, die wir zuvor gesehen haben.

Was anderorts vielleicht eine Gartenlaube ist, ist hier das Wohnhaus für eine mehrköpfige Familie.

Wir nehmen auf den roten Plastikstühlen für Kinder Platz, die vor dem Holzbeschlag stehen, in dem Mutter Soriya mit ihren drei Kindern schläft. “Drinnen ist nicht genug Platz für uns alle”, erzählt sie, “mein Sohn schläft meist draußen unter der Überdachung”. Während sie das sagt, ist sie mit der der Arbeit beschäftigt und berichtet uns weiter, was sie alles tut, um genug Geld für die Familie zu verdienen. Auf dem Markt kauft sie Eier ein, die sie kocht und wieder verkauft, etwa dreißig Stück am Tag. Außerdem stellt sie Gewürzmischungen her. “Ich wasche auch Wäsche. Das wissen die Leute in der Umgebung und bringe ihre Sachen hierher und holen sie auch wieder ab”, erzählt Soriya. Trotzdem ist das Geld sehr knapp, seit der Mann im Gefängnis ist. Die Neonröhre über ihr, ist die einzige Lichtquelle auf dem Grundstück. Trinkwasser gewinnt die Familie aus Regenwasser, das in einer großen Tonne gesammelt wird. “Es gibt auch eine Wasserpumpe von der Stadt, aber das Wasser ist zu wenig für alle Menschen hier. Darum mischen wir es mit Regenwasser”, sagt die dreifache Mutter, während sie Basilikumblätter von ihren Zweigen zupft. “Aber wir haben jetzt eine Toilette”, berichtet sie ein bisschen stolz und zeigt auf das Holzhäuschen neben dem Wohnhaus. Diese wurde durch das Patenprogramm finanziert und kürzlich aufgestellt.

Fisch und Reis werden in der Sonne getrocknet. Kühlmöglichkeiten gibt es keine.

Ich blicke mich auf dem Grundstück um und entdecke hinter uns in der Sonne liegend ein Bastschale mit Fischstücken, die einen gräulichen Farbton erreicht haben und von Fliegen umkreist werden. “Isst die Familie den Fisch noch?”, möchte ich von Kollege Sirivuth wissen, der wieder als Übersetzer und Vermittler hilft und selbst Kambodschaner ist. “Ja, das nennt sich ‘Dried Fish’’”, erzählt er — also getrockneter Fisch. Eine traditionelle Art, Fisch ohne Kühlmöglichkeiten zu konservieren. Und ein Arme-Leute-Essen. Ich denke daran, wie man in Deutschland für gewöhnlich Fisch kauft und verzehrt: Auf Eis gekühlt vom Markt oder Händler, in einer Kühltasche transportiert und noch am selben Tag gegessen. Es liegen Welten zwischen uns.

Auch der vom Kochen übrige Reis würde getrocknet und dann wiederverwertet werden, erklärt Sirivuth. “Für die schlechten Zeiten, wenn die Reisvorräte aufgebraucht sind.” Der Reis wird mit Wasser aufgequollen, manchmal auch ein drittes Mal.

Die ältesten Töchter spielen in einer Fußball-Mannschaft, im Tournier haben sie mit dem Team Medaillen gewonnen.

Wir werden in das aus Blech und Holzteilen bestehende Haus gebeten. “Passt mit dem Kopf auf”, warnt man uns beim Eintreten vor der scharfen Kante des Blechdaches, die über unseren Köpfen in den Türeingang hineinragt. Es ist das erste Mal, das wir hineingebeten werden. Der Raum ist klein und dunkel. An den Wänden hängen Schultaschen, Kochtöpfe und Medaillen. “Meine Mädels spielen Fußball und haben sogar eine Auszeichnung bei einem Tournier gewonnen”, erzählt Mutter Jorani stolz. Damit meint sie ihre zwei ältesten (11 und 15) von vier Töchtern. Es ist auch das erste Mal, das ich von einem Hobby der Kinder höre. Die meisten Patenkinder, die wir sprechen konnten, hatten keine Zeit für Spiel und Hobbies, sie halfen ihrer Mutter.

Moment mal, vier Töchter? Erst jetzt entdecke ich hinter mir in der Hängematte liegend ein schlafendes Baby. “Mein Mann wurde verhaftet, als ich gerade schwanger war”, berichtet die nun alleinerziehende Mutter. Jetzt ist sie verantwortlich für die Versorgung und den Lebensunterhalt. Im ohnehin kleinen Haus der Familie hat Jorani einen Raum als öffentliche Bibliothek an die Stadt vermietet, dafür erhält sie monatlich eine kleinen Betrag. “Ich nähe Tiere aus Stoff. Aber ich kann nicht so viel verkaufen, weil ich alles von Hand nähe und dadurch lange brauche”, sagt sie. “Außerdem sehe ich sehr schlecht”, ergänzt sie. Eine Brille und eine Nähmaschine würden ihr konkret helfen. Sirivuth notiert beides, damit es durch Spendengelder aus dem Hoffnungsträger Patenprogramm angeschafft werden kann. Die Brille kostet hier umgerechnet gerade mal acht Euro. Für diese Familie verändert sie viel.

Tidah (11), die gerade noch neugierig mit ihren Schwestern um uns herum tänzelte, steht nun in Schuluniform vor uns und lächelt stolz. “Ich muss jetzt zur Schule”, sagt sie und verabschiedet sich. Ich bin froh, dass das Mädchen hier herauskommt — aus dem Haus, um in die Schule zu gehen und in eine bessere Zukunft als ihre Mutter hat. Diese würde auch für das Mädchen ganz anders aussehen, würde die Unterstützung des Patenprogramms der Familie nicht unter die Arme greifen und für die Schulgebühren aufkommen.

Mein Weg zurück an den Arbeitsplatz

Diese zwei Wochen in Kambodscha haben mir gezeigt, dass es sich lohnt, Zeit für die Familien zu haben, sie zu besuchen und genau hinzuhören, damit die Hilfe durch das Patenprogramm optimal ankommt. Das ist die wichtige Arbeit, die von Sozialarbeitern unserer Partner in den Patenländern bereits geleistet wird. Ich habe Familien gesehen, die am Existenzminimum leben und dennoch nicht aufgeben. Die Unterstützung durch viele Hoffnungsträger hilft ihnen nicht nur, besser über die Runde zu kommen, sie gibt ihnen auch Hoffnung. Sie zeigt ihnen, dass andere an sie glauben. Es macht Mut, wenn Kinder trotz aller Umstände zur Schule gehen können und Erziehungsberechtigte darin unterstützt werden, selbst Geld zu verdienen. Für meine Arbeit nehme ich mit, dass die Lebenssituation und die Bedürfnisse jeder einzelnen Familie, in der ein Elternteil im Gefängnis sitzt, grundverschieden ist. Es gibt nicht “DAS Leben von Kindern von Gefangenen”. Armut hat viele Gesichter und Hoffnung auch.

*Die Namen der aufgeführten Personen wurden aus Gründen des Identitätsschutzes abgeändert.

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