Weltflüchtlingstag – Von Kabul nach Deutschland: Turfas Reise zum Neuanfang.

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Allgemein, Hoffnungshäuser, Stiftung

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DER WELTFLÜCHTLINGSTAG AM 20. JUNI ERINNERT UNS DARAN, DIE GESCHICHTEN UND HERAUSFORDERUNGEN DER MILLIONEN VON MENSCHEN ZU WÜRDIGEN, DIE AUFGRUND VON KRIEG, VERFOLGUNG UND MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN IHRE HEIMAT VERLASSEN MUSSTEN. LAUT UNO-FLÜCHTLINGSHILFE SIND DERZEIT WELTWEIT 120 MILLIONEN MENSCHEN AUF DER FLUCHT – EIN TRAURIGER REKORD. DIESE ZAHL IST IM VERGLEICH ZUM LETZTEN JAHR UM 10% GESTIEGEN.

HEUTE TEILEN WIR DIE BEWEGENDE GESCHICHTE VON TURFA NOOR, EINER 35-JÄHRIGEN FRAU AUS AFGHANISTAN, DIE MIT IHRER FAMILIE NACH DEUTSCHLAND FLIEHEN MUSSTE. TURFAS UNFREIWILLIGE REISE IST EIN SYMBOL FÜR MUT, HOFFNUNG UND DAS UNERMÜDLICHE STREBEN NACH EINEM BESSEREN LEBEN FÜR SICH UND IHRE FAMILIE.

Turfas Leben in Afghanistan

Kannst du etwas von deiner Heimat erzählen, wo du gelebt hast? Wie es dort war und warum du flüchten musstest?

Ich bin Turfa Noor und komme aus Afghanistan, genauer gesagt aus Badachschan. Von 2010 bis August 2021 habe ich in Kabul, der Hauptstadt von Afghanistan, gelebt, wo ich zuletzt für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet habe. Vor meiner Zeit bei der GIZ habe ich Mathematik studiert und war drei Jahre lang als Lehrerin tätig.

Die politischen Veränderungen durch die Machtübernahme der Taliban haben unser Leben drastisch verändert. Drei Monate habe ich mit diesen Veränderungen gelebt, bis es zu gefährlich für mich und meine Familie wurde. Deshalb musste ich fliehen. In dieser kritischen Phase hat uns die Organisation geholfen und glücklicherweise rechtzeitig Visa ausgestellt, sodass ich und meine Familie den Taliban entkommen konnten.

Die Flucht war für uns von tiefer Angst geprägt. Wir mussten äußerst vorsichtig sein, weil unser Leben bedroht war. Aus Sicherheitsgründen habe ich mich dafür entschieden, mich vollständig zu verschleiern, um sicherer reisen zu können und nicht erkannt zu werden. Die Zustände am Flughafen waren erschreckend katastrophal, wie es auch in den Medien berichtet wurde.

Also war der Hauptgrund, warum du flüchten musstest, der Schutz vor den Taliban?

Ja, genau. Die Taliban sind gefährliche internationale Terroristen, die keine menschlichen Werte respektieren, besonders was jegliche Art von Freiheit betrifft. Meinungsfreiheit, aber auch insbesondere die freie Entfaltung für Frauen. Beispielsweise sitzen seit fast drei Jahren viele Frauen und Mädchen in den Gefängnissen von Afghanistan. Das ist wirklich schrecklich.

Und wie war die Flucht nach Deutschland? Welche Herausforderungen sind dir dabei begegnet?

Gottseidank war die Flucht selbst in unserem Fall nicht so schlimm! Zum einen, weil wir nach Deutschland geflohen sind, und zum anderen mussten wir nicht zu Fuß kommen oder andere Strapazen auf uns nehmen, sondern wurden dank der GIZ ausgeflogen. Zunächst sind wir als erste Schutzmaßnahme für ein paar Wochen nach Pakistan geflogen, um dann von dort nach Deutschland zu kommen.

Ankunft und erste Eindrücke in Deutschland

Wie war dein Gefühl, als du zum ersten Mal deutschen Boden betreten hast?

Wenn man seine Heimat verlassen muss, ist das wirklich schlimm! Es war und ist sehr schwierig für uns! Stell dir vor, du musst plötzlich deine Heimat, die gewohnte Umgebung und deine Familie verlassen. Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr so, wie es war. Alles, was wir uns aufgebaut hatten, sowohl finanziell als auch beruflich, war dahin. Alle Zukunftspläne und Träume waren in Luft aufgelöst. Als wir in Deutschland angekommen sind, waren wir zunächst mental geschädigt. Alles war neu und eine Herausforderung! Wir hatten keinerlei Informationen darüber, wie das Leben in Deutschland und Europa ist. Zudem sind wir aus einer ganz anderen Kultur gekommen. Die ersten Monate hatte ich keine Kraft weiterzumachen. Alles war sinnlos, vor allem, weil zusätzlich jeden Tag neue schlechte Nachrichten aus der Heimat auf uns eingeprasselt sind. Ich habe mich kaum noch getraut, die Nachrichten zu verfolgen.

Das Hoffnungshaus: Ein Ort der Gemeinschaft und Unterstützung

Inwiefern hat dir das Hoffnungshaus geholfen, dich in Deutschland einzuleben und ein neues Leben aufzubauen?

Als jemand, der in Deutschland sein Leben neu anfangen muss, war insbesondere die deutsche Sprache eine Herausforderung. Als wir nach Deutschland gekommen sind, konnten wir kein Wort Deutsch sprechen, nur „Dankeschön“ und „Tschüss“. Für jemanden wie mich, dem Bildung sehr wichtig ist, war es besonders schwer. Mein Mann, sowie alle meine Geschwister, haben in Afghanistan eine gute Bildung genossen und konnten in ihren Berufen den Master abschließen.

Für Leute wie uns, die keine Familie in Deutschland haben und die deutsche Gesellschaft und deren Kultur nicht kannten, ist das Hoffnungshaus und dessen Bewohner zu einer echten Familie geworden. Wir lachen und weinen zusammen. Wir unterstützen uns gegenseitig und haben echte Gemeinschaft. Ich weiß, wenn ich Hilfe brauche, wird man mich immer unterstützen, genauso wie ich jeden unterstützen würde, wenn er mich braucht.

Welche persönliche Bedeutung hat das Hoffnungshaus für dich als Frau und Mutter?

Nicht nur im Hoffnungshaus, sondern allgemein in Deutschland fühle ich mich als Frau frei. Das Leben im Hoffnungshaus ist für mich sehr wertvoll, weil ich und meine Familie uns hier sehr schnell und gut in die deutsche Gesellschaft integrieren konnten und ich mich als Frau angenommen und wertgeschätzt fühle. Wie ich bereits sagte, ist es eine große Familie, in der wir voneinander lernen. Meine siebenjährige Tochter bekommt Unterstützung bei der Bildung. Sie erhält Nachhilfeunterricht und weitere Förderungen, die sie in der Schule und auch sonst weiterbringen. Aber nicht nur das, ich erfahre jeden Tag konkrete Unterstützung bei Behördengängen und ähnlichen Herausforderungen.

„Wer im Hoffnungshaus wohnt, hat es wesentlich leichter, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Freunde, die mich besuchen, fragen immer, ob es für sie nicht auch eine Wohnung im Hoffnungshaus gibt.“

 

Herausforderungen und Erfolge bei der Integration

Welche persönlichen Herausforderungen haben du und deine Familie bei der Integration in die deutsche Gesellschaft erlebt?

Die deutsche Sprache ist eine große Herausforderung für alle, weil sie sehr vielfältig und somit auch sehr schwierig ist, jedenfalls schwieriger als Englisch. Wie gesagt, mein Mann hat seinen Master und ich meinen Bachelor in Kabul gemacht. Und hier ohne Deutschkenntnisse können wir uns nicht integrieren, weiterentwickeln und arbeiten. Das kann einem schon Angst machen. Aber nachdem wir im Hoffnungshaus unsere neue Familie gefunden haben und ankommen konnten, habe ich mich wieder auf das konzentriert, was mir wichtig ist: Bildung! Deshalb habe ich intensiv angefangen, Deutsch zu lernen. Mittlerweile habe ich das Niveau B2 erfolgreich abgeschlossen und befasse mich nun mit C1.

Positive Erfahrungen und kultureller Austausch

Was hast du in Deutschland besonders positiv erlebt?

Ja, als afghanische Frau, die in einer extremen Gesellschaft aufgewachsen ist, ist eines der positivsten Dinge in Deutschland die Freiheit. Ich kann überall alleine hingehen und mich kleiden, wie ich will. Das ist wirklich sehr, sehr positiv. Hier kann ich „ICH“ sein und mich frei entfalten. Was mich auch begeistert: Wenn man sich in Deutschland bemüht und wirklich will, kann man in Bezug auf Bildung alle seine Ziele erreichen. Nicht zu verachten ist die Meinungsfreiheit. Vor den Taliban hatten wir zwar auch die Möglichkeit, unsere Meinung zu äußern, aber nicht so frei wie in Deutschland. Hier haben meine Familie und ich so viele Freiheiten, das ist wirklich ein Geschenk! Ehrlich gesagt habe ich hier viele neue und positive Erfahrungen gemacht, und dafür bin ich sehr dankbar.

Hast du einen Kulturschock erlebt, als du hierherkamst? Wie siehst du das jetzt im Rückblick?

Eigentlich nicht. Die deutsche Gesellschaft ist sehr vielfältig, und viele Leute aus verschiedenen Ländern leben hier. In meinem Deutschkurs beispielsweise waren wir viele aus verschiedenen Ländern. Dort haben wir viel über unsere Kulturen gesprochen und uns ausgetauscht. Das war für mich sehr interessant. Genau das ist es, was ich auch am Hoffnungshaus so liebe – den kulturellen Austausch. Hier im Hoffnungshaus habe ich viele Möglichkeiten dazu. Sei es bei einer deutschen Geburtstagsfeier, einem anderen Fest oder einfach nur bei einem kulinarischen interkulturellen Abend. Das hilft bei der Integration, und das gegenseitige Lernen trägt zur besseren Völkerverständigung bei. Meine deutschen Freundinnen außerhalb des Hoffnungshauses, die die afghanische Kultur nicht kennen, denen erzähle ich immer von meiner Kultur und lerne auch gerne von ihnen. Also nein, das war kein Schock, sondern etwas Neues und Interessantes!

Wie sehen deine Pläne als junge Frau und Mutter aus und welche Träume verfolgst du für die Zukunft hier in Deutschland?

Für dieses Jahr ist es mein Ziel, meine Deutschkenntnisse noch deutlich zu steigern. Nächstes Jahr möchte ich sowohl arbeiten als auch studieren oder eine Fortbildung machen. Es wäre schade, wenn ich mein Studium nicht nutzen könnte. Bildung hat für mich einen hohen Stellenwert! Meine fünf Geschwister und ich sind mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Bildung sehr wichtig ist. Deshalb haben alle meine Geschwister in Afghanistan studiert und ihren Master gemacht. Das ist natürlich auch für mich sehr wichtig. Ich habe zwei Kinder, und ich möchte, dass auch sie die bestmögliche Bildung erhalten – was sie aktuell im Hoffnungshaus auch bekommen. Ich selbst möchte gerne ein Studium in Buchhaltung absolvieren.

Der Weltflüchtlingstag und Turfas Botschaft

Was bedeutet der Weltflüchtlingstag am 20. Juni für dich persönlich?

Ich wusste zunächst nicht, dass es diesen Tag gibt. Als die Anfrage zum Interview kam und ich gelesen habe, dass es um den Weltflüchtlingstag geht, habe ich sofort zugesagt. Dieser Tag hat für geflüchtete Leute wie uns eine große Bedeutung, und ich glaube auch für andere, die davon betroffen sind. Angesichts der Debatte, die gerade in Deutschland geführt wird, glaube ich trotzdem, dass die Mehrheit der deutschen Gesellschaft Leute wie uns unterstützt.

Welche Botschaft möchtest du zum Weltflüchtlingstag an die Menschen richten? Und welche Möglichkeiten siehst du für Deutschland, die Integration von Geflüchteten weiter zu verbessern?

Zunächst möchte ich noch einmal deutlich machen, dass wir der deutschen Gesellschaft und Regierung sehr dankbar sind. Wir wurden und werden immer unterstützt! Aber es gibt immer noch einige Herausforderungen. Zum Beispiel haben einige unserer GIZ-Kollegen, die auch nach Deutschland fliehen mussten, immer noch keine Wohnungen. Das macht es sehr schwierig, hier anzukommen und sich auf das Leben in Deutschland inklusive Integration, Selbstständigkeit durch Arbeit usw. zu konzentrieren. Das gilt deutschlandweit, wobei ich betonen muss, dass es im Großraum Stuttgart nicht der Fall ist. Aber ich möchte auch geflüchteten Menschen eine Botschaft senden: Es ist wichtig, die richtige Einstellung zum Land und zur Sprache zu haben und Ziele zu setzen, um sich zu integrieren und weiterzuentwickeln. Wer keine Ziele hat, ist bereits verloren. Ich freue mich immer wieder, wenn Menschen das wertschätzen, was wir hier in Deutschland haben.

Sollte die deutsche Gesellschaft ein größeres Verständnis für die Herausforderungen der Integration aufbringen?

Auf jeden Fall! Integration in Deutschland ist eine große Herausforderung für geflüchtete Menschen. Sie haben Träume und Wünsche, möchte lernen und sich weiterbilden, aber sie müssen sich auch um ihre Familie kümmern, eine neue Sprache erlernen und gleichzeitig mit den traumatischen Erlebnissen fertig werden. Wenn diese Menschen aber von der deutschen Bevölkerung Verständnis und Unterstützung erfahren, wie es bei mir der Fall ist, dann ist es zwar immer noch schwer, aber es fällt einem wesentlich leichter, voranzukommen. Es macht einem Mut, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Seit September arbeite ich ehrenamtlich im Lindenmuseum in Stuttgart und habe dort viele tolle Begegnungen und liebe deutsche Freunde gefunden.

Ich betone jedoch auch, dass unser Herkunftsland eine Vielzahl an Sprachen und Kulturen beheimatet und daher viel reicher und schöner ist, als es die Taliban oder andere Terroristen und Straftäter darstellen. Meiner Meinung nach sollte strenger geprüft werden, wer nach Deutschland einreisen darf und welchen Hintergrund er hat. Hier sollte deutlich schärfer gefiltert werden. Zum Beispiel hat ein junger Mann, den ich im Flüchtlingsheim kennengelernt habe und der sich zu den Taliban bekennt, eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre erhalten, während ich, die für die deutsche Regierung gearbeitet habe, nur eine für ein Jahr bekommen habe. Das sollte so nicht sein. Personen, die Straftaten begehen, sollten konsequent in ihr Herkunftsland abgeschoben werden.

Wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus?

Ich möchte mich positiv weiterentwickeln und bei meiner Rückkehr nach Afghanistan die positiven Aspekte Deutschlands in die afghanische Gesellschaft einbringen, um so zur positiven Veränderung meines Landes beizutragen.

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